Hub Bern: Interview

Tourismusregionen sind sowohl Opfer als auch Treiber des Klimawandels

Das Portfolio des Hubs Bern umfasst derzeit 15 Projekte, die in enger Zusammenarbeit mit dem Kanton Bern durchgeführt werden. Die laufenden Aktivitäten tragen zur Bewältigung einiger der dringlichsten Umweltprobleme der Schweiz bei.

Anja Strahm

Anja Strahm

Wissenschaftliche Mitarbeiterin und stellvertretende Leiterin des Hubs Bern, seit Mai 2021 bei der Wyss Academy

Warum ist es angesichts all der regionalen Herausforderungen und der aktuellen Ziele des Hubs Bern wichtig, klimaneutrale Tourismusprojekte zu entwickeln?

Der Tourismus ist Mitverursacher des Klimawandels. Wir wissen, dass er für rund acht Prozent der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich ist. Rund die Hälfte der Emissionen aus dem Tourismus – und damit der bei Weitem grösste Anteil – entsteht bei der An- und Abreise der Gäste. Heute wird so viel geflogen wie nie zuvor. Trotz der massiven Auswirkungen auf die Erderwärmung hat der Luftverkehr in den Jahren vor der Covid-19-Krise stetig zugenommen und der pandemiebedingte Rückgang des Flugverkehrs ist bereits wieder Geschichte. Es wird erwartet, dass der Anteil des Luftverkehrs an den globalen CO2-Emissionen in Zukunft weiter steigen wird. Der Grossteil der durch diese Emissionen verursachten Kosten wird von der Allgemeinheit, und nicht von den Verursachern getragen.

Der Tourismus ist in gewissen Regionen der Schweiz der weitaus wichtigste Wirtschaftssektor. Als Reisedestination, die viele Gäste aus Übersee anzieht, trägt die Schweiz beim Klimaschutz eine besondere Verantwortung. Auch die Schweizer*innen lieben das Reisen: Wir sind ein Volk von Vielfliegern. Es ist zu hoffen, dass mit der Entwicklung von attraktiven und klimaneutralen Tourismusangeboten und neuen Arbeitsformen sich mehr Schweizer*innen dazu entschliessen, ihre Ferien im eigenen Land zu verbringen und dessen Vielfalt und Schönheit zu entdecken.

Bern Interview
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Foto: Manu Friederich.
Amt für Umwelt und Energie des Kantons Bern (AUE) (Office for Environment and Energy of the Canton of Bern), the Centre for Development and Environment (CDE) of the University of Bern and the Regionalkonferenz Oberland-Ost (Regional Conference Oberland-East)

Warum hat die Wyss Academy für ein Pilotprojekt zur Klimaneutralität die berühmte Jungfrau-Region ausgewählt?

Die Berner Regionalkonferenz Oberland-Ost hat sich in ihrer Entwicklungsstrategie 2019 selbst das Ziel gesetzt, als Tourismusregion CO2-neutral zu werden. Damit bot sich für die Wyss Academy eine grosse Chance, gemeinsam mit dem Kanton Bern und der Universität Bern an der Umsetzung dieses Ziels mitzuwirken und diesen herausfordernden Prozess zu unterstützen. Es ist sehr inspirierend, dass eine der führenden Tourismusregionen der Schweiz den Willen und die Motivation hat, sich den Herausforderungen der Dekarbonisierung zu stellen. Wir unterstützen unsere lokalen Partner mit einem umfassenden Visions- und Engagement-Prozess, mit der Finanzierung einer regionalen Klima-Coachin und in der Umsetzung von Inkubator-Projekten. Weiter bereiten wir Erkenntnisse und Erfahrungen auf und stellen sie interessierten Regionen zur Verfügung. Mit ihrer weltweiten Ausstrahlung als UNESCO-Welterbe möchte die Jungfrau-Region mit gutem Beispiel vorangehen und massgeblich zum Transformationsprozess hin zu einem nachhaltigen Tourismus beitragen.

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Welche besonderen Herausforderungen gibt es im Bergtourismus im Vergleich zu anderen Tourismusarten?

Gebirgsländer wie die Schweiz sind überdurchschnittlich stark vom Klimawandel betroffen, was gerade in diesem Winter deutlich zu spüren war. Es fällt weniger Schnee, oder nur noch in höher gelegenen Regionen, und der Schnee hält weniger lange. Insbesondere Skigebiete in niedrigeren Lagen sind betroffen, weil für sie die Skisaison immer kürzer wird. Das bringt hohe wirtschaftliche Einbussen mit sich. Es müssen deshalb neue Angebote geschaffen werden, um die Auslastung der Infrastruktur zu gewährleisten. Ausserdem machen uns extreme Wetterereignisse wie Hitzewellen oder Starkregen und die damit verbundenen Naturgefahren zunehmend Probleme. Der schmelzende Permafrost gefährdet Infrastrukturen und erhöht das Risiko für Steinschlag, Erdrutsche und Schlammlawinen in Siedlungsgebieten.

Wie stellen Sie sich eine CO2-neutrale Tourismusregion in der Schweiz vor?

Wir von der Wyss Academy glauben, dass der Tourismus der Zukunft nachhaltiger sein muss und geringere Auswirkungen auf die Ökosysteme haben sollte. Wir brauchen einen sanfteren, deglobalisierten, das heisst lokaleren Tourismus. Reisen, auch internationale Reisen, werden ein grundlegendes menschliches Bedürfnis bleiben und sollten auch in Zukunft möglich sein. Wir alle müssen uns jedoch genau überlegen, wie oft, wie lange, wie und wohin wir als Tourist*innen reisen. Die Tourismusregionen und -organisationen ihrerseits müssen darüber nachdenken, welche Art von Aktivitäten sie anbieten und welche Zielgruppen sie ansprechen wollen. Eine mögliche Option wäre, sich stärker auf Gäste aus der Schweiz und Kontinentaleuropa zu konzentrieren, anstatt Märkte in Übersee anzusprechen. Es müssen neue, klimafreundliche Geschäftsmodelle entwickelt und getestet werden. Aktuell wird noch stark wirtschaftlich argumentiert, dass die Anzahl der Gäste aus dem Ausland gleich bleiben oder sogar noch steigen soll, da die Infrastruktur bereits existiert. Im Tourismussektor und bei vielen Gästen macht sich aber zunehmend auch die Auffassung breit, dass sich etwas ändern muss.

Es bräuchte eine zuverlässige Erhebung der Treibhausgasemissionen, aller Aktivitäten während der gesamten Reise einer Touristin oder eines Touristen. Auf dieser Grundlage sollten Klimastrategien erarbeitet werden, die konkrete und effiziente Massnahmen zur Senkung der Treibhausgasemissionen aufzeigen, um bis 2050 das Netto-Null-Ziel zu erreichen. Die Tourismusdestinationen Davos und Arosa nehmen an einem Pilotprojekt zu klimaneutralen Regionen teil. Es ist zu hoffen, dass ihre Methoden zur Messung der von Tourist*innen verursachten Gesamtemissionen zum neuen Standard werden können. Wir vertreten zudem die Ansicht, dass politische Vorgaben erforderlich sind, um eine tiefgreifende und schnelle Transformation zu erreichen, was angesichts der Dringlichkeit der Klimakrise von entscheidender Bedeutung ist.

Welche Partnerschaften innerhalb von Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Regierungsorganisationen sind erforderlich, um diese Ziele zu erreichen?

Die Tourismusindustrie ist eine sektorübergreifende Industrie und wird deshalb direkt beeinflusst durch sektorspezifischen Regelungen, beispielsweise in den Sektoren Mobilität, Wohnen oder Energie. Dies erfordert auf allen Ebenen einen hohen Grad an Abstimmung zwischen den verschiedenen Sektoren und Akteur*innen. Auf Ebene Region müssen alle Interessengruppen informiert und mit ins Boot geholt werden. Zusammen müssen sie eine gemeinsame Vision dessen entwickeln, was sie ihren Gästen anbieten wollen, und die entsprechenden Massnahmen wirksam und koordiniert umsetzen. Auch die Nachfrageseite muss sensibilisiert werden, damit sie verantwortungsvolle Entscheidungen treffen kann. Ausserdem muss natürlich die Politik einen förderlichen Rechtsrahmen für den Übergang schaffen. Denkbar sind hier beispielsweise die Ausweitung finanzieller und technischer Unterstützungsprogramme und die Festlegung klarer Ziele und Standards.

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